Die Verwirklichung von Geschlechtergleichstellung ist eine der zentralen gesellschaftlichen Aufgaben unserer Zeit und das Bildungssystem spielt dabei eine Schlüsselrolle. In Österreich wurden in den letzten Jahrzehnten bedeutende rechtliche und strukturelle Weichenstellungen vorgenommen, um Mädchen und Buben, Frauen und Männern gleiche Bildungschancen zu ermöglichen. Doch trotz sichtbarer Fortschritte zeigen sich weiterhin hartnäckige Ungleichheiten und tradierte Rollenbilder, die den Weg zu echter Chancengerechtigkeit erschweren. Dieser Artikel beleuchtet die vielschichtigen Bemühungen um Geschlechtergleichstellung im österreichischen Bildungssystem, von historischen Entwicklungen über aktuelle Strategien bis hin zu den Herausforderungen, die noch zu bewältigen sind.
Historische wurzeln und gesellschaftliche prägungen
Um die heutige Situation zu verstehen, lohnt ein Blick zurück. Die Mädchenerziehung im 19. Jahrhundert in Österreich war geprägt von strikter Geschlechtertrennung und unterschiedlichen Bildungszielen. Während die allgemeine Schulpflicht bereits 1774 eingeführt wurde, erhielten Mädchen eine Ausbildung, die primär auf ihre vermeintlich „weibliche Bestimmung“ als Hausfrau und Mutter abzielte, inklusive Fokus auf Handarbeiten statt vertiefter naturwissenschaftlicher oder technischer Bildung. Der Zugang zu höherer Bildung war für Frauen ein langwieriger Kampf, der erst schrittweise im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Erfolge zeigte, oft getragen von engagierten Frauenvereinen. Dieser historische Hintergrund prägt subtil bis heute gesellschaftliche Erwartungen und Rollenbilder.
Auch heute noch beeinflussen tief verwurzelte gesellschaftliche Vorstellungen die Bildungs- und Lebenswege. Die in Österreich verbreitete Ansicht, dass kleine Kinder unter der Berufstätigkeit der Mutter leiden, wie Studien von UN Women andeuten und wie es auch im Diskurs auf oe1.ORF.at thematisiert wird, steht im Kontrast zu Ländern wie Dänemark, wo externe Kinderbetreuung durch Fachpersonal hoch angesehen ist. Diese Haltung fördert das in Österreich dominante 1,5-Verdiener-Modell, bei dem meist Frauen ihre Erwerbstätigkeit reduzieren. Dies hat nicht nur Auswirkungen auf die spätere Pension – Frauenpensionen liegen durchschnittlich 40% unter jenen der Männer – sondern auch auf die aktuelle finanzielle Unabhängigkeit und die Verteilung unbezahlter Sorgearbeit, die trotz einer „Gender Revolution“ weiterhin ungleich verteilt ist. Solche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirken unweigerlich auch in das Bildungssystem hinein und beeinflussen Erwartungen an Schülerinnen und Schüler sowie deren spätere Berufs- und Lebensentscheidungen.
Rechtliche verankerung und politische strategien
Österreich hat auf die Notwendigkeit der Gleichstellung reagiert und diese auf verschiedenen Ebenen rechtlich und strategisch verankert. Bereits 1998 wurde die Gleichstellung von Frauen und Männern als Staatszielbestimmung in der Bundesverfassung festgeschrieben. Ein Meilenstein war die Haushaltsrechtsreform 2013, mit der Gender Budgeting gesetzlich implementiert wurde. Dies verpflichtet alle Ressorts, bei der Budgetplanung die Auswirkungen auf die Geschlechtergleichstellung zu berücksichtigen und Gleichstellungsziele zu definieren, deren Erreichung gemessen wird. Diese Verankerung, wie sie etwa von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) im Kontext der Forschungsförderung beschrieben wird, zielt darauf ab, Gleichstellung von einer reinen Absichtserklärung zu einem integralen Bestandteil der Verwaltungssteuerung zu machen.
Eine zentrale Strategie zur Umsetzung von Geschlechtergleichstellung ist das Gender Mainstreaming. Dieser Ansatz, der darauf abzielt, die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Bedürfnisse von Frauen und Männern in allen Planungs-, Entscheidungs- und Umsetzungsprozessen zu berücksichtigen, wurde in Österreich schrittweise seit den 1970er Jahren im Bildungsbereich eingeführt und ab den 1980ern zunehmend institutionalisiert. Die Entwicklung und Implementierung dieser Strategien, wie sie Doris Guggenberger in ihrem Buch „Der lange Weg“ nachzeichnet und wie sie auch im Blog IMAG Gendermainstreaming diskutiert wird, wurde maßgeblich von spezialisierten Abteilungen und interministeriellen Arbeitsgruppen vorangetrieben. Gender Mainstreaming findet sich heute in verschiedensten Bildungsbereichen wieder, von der Hochschulpolitik bis hin zur Verknüpfung mit Konzepten wie der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), wie eine Analyse in der Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik zeigt.
Speziell für den Schulbereich wurde mit dem Rundschreiben Nr. 21/2018 des Bildungsministeriums der „Grundsatzerlass für Reflexive Geschlechterpädagogik und Gleichstellung“ geschaffen. Dieser Erlass, der auf der Webseite der Bildungsdirektion Steiermark erläutert wird, löste ältere Regelungen ab und verfolgt einen umfassenderen Ansatz. Er gilt für alle Schulstufen und -typen und zielt darauf ab, einen professionellen, differenzierten und reflektierten Umgang mit der Dimension Geschlecht in der gesamten Schulkultur zu fördern. Es geht nicht nur um den Unterrichtsinhalt, sondern auch um die sozialen Beziehungen, die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen, Rollennormierungen und geschlechterbezogenen Ungleichbehandlungen wie Sexismus oder traditionellen „Ehrkulturen“. Die Förderung von Reflexiver Geschlechterpädagogik soll dazu beitragen, tradierte Rollenbilder abzubauen, das unbewusste „Doing Gender“ (die soziale Konstruktion von Geschlecht) zu vermeiden und Homo- sowie Transfeindlichkeit entgegenzuwirken.
Herausforderungen und fortschritte in der praxis
Die Umsetzung dieser Strategien in der täglichen Praxis des Bildungssystems ist komplex und stößt auf unterschiedliche Herausforderungen. Im Schulbereich ist es eine zentrale Aufgabe, allen jungen Menschen zu ermöglichen, ihr Potenzial unabhängig von Geschlecht oder Herkunft zu entfalten, wie das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) betont. Dies erfordert gezielte Fördermaßnahmen, inklusive Lernumgebungen und die Entwicklung von Geschlechter- und Diversitätskompetenz bei allen Beteiligten. Analysen zeigen jedoch, dass Geschlechterzuschreibungen und Erwartungen weiterhin dazu führen, dass Potenziale nicht voll ausgeschöpft werden. Initiativen wie jene des Zentrums polis – Politik Lernen in der Schule, das praxisnahe Materialien zur Reflexion von Geschlechterrollen im Unterricht bereitstellt, sind wichtige Unterstützungsangebote für Lehrkräfte.
Schulen: Stereotypen abbauen, vielfalt fördern
Konkret bedeutet dies im Schulalltag, Stereotypen in Lehrmaterialien und im Unterricht aktiv entgegenzuwirken. Es geht darum, Schülerinnen und Schüler zu ermutigen, Interessen und Fähigkeiten unabhängig von traditionellen Geschlechterklischees zu verfolgen – sei es bei der Wahl von Schulfächern, Freizeitaktivitäten oder dem späteren Berufsweg. Die Förderung einer reflexiven Geschlechterpädagogik zielt darauf ab, Lehrkräfte und Schüler*innen für unbewusste Vorannahmen und das „Doing Gender“ zu sensibilisieren. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Schaffung eines sicheren und inklusiven Umfelds für alle Geschlechtsidentitäten und sexuellen Orientierungen, was den aktiven Abbau von Homo- und Transfeindlichkeit einschließt. Auch die Auseinandersetzung mit Themen wie sexueller Belästigung und Gewalt, wie sie von Schüler*innen im Rahmen von UNESCO-Projekten gefordert wird, gehört zu einem umfassenden Verständnis von Geschlechtergerechtigkeit im Bildungsbereich.
Hochschulen: Die ‚leaky pipeline‘ und der ruf nach kulturwandel
Im Hochschulbereich zeigt sich ein paradoxes Bild: Während Frauen mittlerweile die Mehrheit der Studierenden und Absolvent*innen stellen, nimmt ihr Anteil auf höheren Karrierestufen, insbesondere bei Professuren, signifikant ab. Dieses Phänomen wird als „leaky pipeline“ bezeichnet und ist sowohl in Universitäten, wie in Artikeln auf Global Dialogue analysiert, als auch im Forschungsbereich generell zu beobachten. Österreich hat darauf mit verschiedenen Maßnahmen reagiert. Bereits seit den 1980er Jahren gibt es eine Gleichstellungspolitik, die später durch Gender Mainstreaming ergänzt wurde. Eine signifikante Maßnahme war die Einführung einer gesetzlichen Frauenquote für Universitätsgremien im Jahr 2009, die mittlerweile bei 50% liegt.
Studien, wie jene auf Frontiers in Sociology diskutiert, zeigen, dass diese Quotenregelung die numerische Repräsentation von Frauen in Leitungsgremien wie Rektoraten und Universitätsräten deutlich erhöht hat. Allerdings führte dies nicht automatisch zu einem tiefgreifenden kulturellen Wandel. Die Unterrepräsentation von Frauen bei den Professuren bleibt bestehen, und geschlechtsspezifische Wahl von Studienfächern ist weiterhin ein Thema. Familienfreundliche Maßnahmen wie der Ausbau der Kinderbetreuung sind wichtig, bergen aber die Gefahr, traditionelle Rollenbilder zu reproduzieren, wenn sie nicht durch einen Wandel der Arbeitskultur begleitet werden. Die vorherrschende wissenschaftliche Kultur mit ihren Erwartungen an ständige Verfügbarkeit und Flexibilität kollidiert oft mit den Lebensrealitäten insbesondere von Frauen, die häufiger Sorgearbeit leisten.
Um über rein quantitative Verbesserungen hinauszugehen, wurde die Politik der „Genderkompetenz“ initiiert. Diese zielt darauf ab, das Bewusstsein und die Fähigkeit aller Akteur*innen im Hochschulsystem – von der Verwaltung über die Lehre bis zur Forschung – zu stärken, Geschlechteraspekte in ihrem Handeln zu erkennen und zu berücksichtigen. Genderkompetenz soll die bestehenden Maßnahmen ergänzen und einen nachhaltigeren Kulturwandel fördern. Die Umsetzung dieser Politik steht jedoch noch am Anfang und erfordert Ressourcen, Expertise und eine konsequente Verankerung in den Steuerungsmechanismen der Hochschulen. Fachhochschulen wie die FH Campus Wien zeigen mit eigenen Gender & Diversity Management-Abteilungen, spezifischen Weiterbildungsangeboten und einer klaren Verankerung in Strategie und Verhaltenskodex, wie ein umfassendes Engagement aussehen kann.
Lehrer*innenbildung: Schlüssel zur multiplikation
Eine entscheidende Rolle kommt der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Pädagoginnen und Pädagogen zu. Nur wenn Lehrkräfte selbst über hohe Geschlechter- und Diversitätskompetenz verfügen, können sie diese Haltung und das entsprechende Wissen authentisch im Unterricht und im Schulalltag vermitteln und als Multiplikator*innen für eine geschlechtergerechte Schulkultur wirken. Die Pädagogischen Hochschulen sind daher gefordert, diese Kompetenzen systematisch in ihre Curricula zu integrieren und entsprechende Fortbildungen anzubieten, wie auch das BMBWF unterstreicht.
Der lange atem für echte chancengerechtigkeit
Trotz aller Fortschritte und etablierten Strategien bleibt die vollständige Verwirklichung der Geschlechtergleichstellung im österreichischen Bildungssystem eine Utopie, deren Erreichung, global betrachtet, noch in weiter Ferne liegen könnte. Der Weg ist lang, wie die historische Perspektive zeigt, und er erfordert einen langen Atem von allen Beteiligten. Es reicht nicht aus, formale Gleichheit herzustellen oder Quoten einzuführen, auch wenn dies wichtige Schritte sind. Echte Chancengerechtigkeit erfordert einen tiefgreifenden kulturellen Wandel, der tradierte Rollenbilder, unbewusste Vorurteile und strukturelle Benachteiligungen auf allen Ebenen des Bildungssystems und in der Gesellschaft insgesamt hinterfragt und abbaut.
Die Herausforderung besteht darin, die vielfältigen Maßnahmen – von Gender Mainstreaming und Gender Budgeting über reflexive Geschlechterpädagogik bis hin zur Förderung von Genderkompetenz – kohärent und nachhaltig umzusetzen. Es braucht kontinuierliche Anstrengungen, um sicherzustellen, dass jedes Kind und jeder junge Mensch in Österreich die Möglichkeit hat, seine Talente und Interessen frei von einschränkenden Geschlechterstereotypen zu entfalten und einen selbstbestimmten Bildungs- und Lebensweg zu gehen. Die Vision ist ein Bildungssystem, das Vielfalt nicht nur anerkennt, sondern als Stärke begreift und aktiv fördert – ein System, in dem das Geschlecht keine Rolle mehr spielt für die Chancen, die sich einem Menschen eröffnen.